„Ich bin eine Frau der ersten Stunde“
Eine Tafel-Mitarbeiterin der ersten Stunde und seit nunmehr beinahe 16 Jahren mit Leib und Seele dabei ist Ulrike Philipp. Die 59-jährige Versicherungskauffrau aus Pohlheim ist heute bei der Tafel zuständig für alle mehr als 300 freiwillige und unentgeltliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Tafelspitz befragte die Mutter von zwei Töchtern nach ihrem Werdegang, nach den unterschiedlichen Bereichen ehrenamtlicher Tätigkeiten bei der Tafel Gießen und ihren Erlebnissen mit den Ehrenamtlern.
Tafelspitz: Ulrike, können Sie sich noch erinnern, wie Sie zur Tafel Gießen gekommen sind?
Ulrike Philipp: Ja, natürlich! Ich habe im Radio den Leiter der Diakonie Holger Claes gehört, wie er für die Arbeit der Tafel um Mitstreiter geworben hat. Mein erster Gedanke beim Zuhören war „Tolle Idee, da möchte ich mitarbeiten. Ein zweiter Gedanke war: super spannend, einmal eine Arbeit von der ersten Stunde an zu erleben und zu beobachten, wie sich eine Idee entwickelt und Gestalt gewinnt. Daher ist es für mich bis heute etwas ganz Besonderes, sagen zu können „Ich bin eine Frau der ersten Stunde“.
Ein weiterer Aspekt war für mich, mit Gleichgesinnten sozial tätig sein zu können. Bereits seit meiner frühen Jugend habe ich mich in unterschiedlicher Weise durchgehend sozial engagiert. Und zuletzt noch ein wichtiger Punkt, die tolle Tafelidee, die mich bis heute begeistert:
Hier verknüpfen sich zwei Dinge: auf der einen Seite werden Lebensmittel vor der Vernichtung bewahrt und auf der anderen Seite können mit diesen Lebensmittel Menschen unterstützt werden, die sich in finanzieller Not befinden. Das faszinierte mich damals und fasziniert mich heute immer noch.
Tafelspitz: Als Koordinatorin für die mehr als 300 Ehrenamtler haben Sie bei der Tafel ja ein umfangreiches Betätigungsfeld. Können Sie uns da ein bisschen aus Ihrem Alltag erzählen?
Ulrike Philipp: Bereits 2007 habe ich die Aufgabe der Ehrenamtskoordinatorin übernommen mit einer Unterbrechung von 2015-2020, wo ich in der Diakonie für die Verwaltung der Tafel tätig war. Seit Juni 2020 gehört die Ehrenamtskoordination wieder zu meinen Hauptaufgaben. Wöchentlich entfallen auf diese Tätigkeit im Durchschnitt 18 Stunden. Ich bin für den Erstkontakt zu neuen Mitarbeitern*innen zuständig.
Tafelspitz: Wie dürfen wir uns denn Ihren ersten Kontakt mit neuen Ehrenamtlern vorstellen?
Ulrike Philipp: Während des Einführungsgesprächs, welches vor dem ersten Tafeleinsatz stattfindet, ist es mir sehr wichtig, die neuen Mitarbeiter näher kennenzulernen, ihre Beweggründe zu erfahren und ihre Wünsche und Vorstellungen zu hören, damit ich ihnen einen geeigneten Platz anbieten und für sie wichtige Informationen weitergeben kann. Der erste Eindruck und die erste Begegnung sind oft entscheidend, ob eine Person sich für oder gegen etwas entscheidet. Außerdem liegt mir am Herzen, dass sie einen guten Einblick in die Organisation der Tafel und die Arbeitsabläufe erhalten. Ich versuche meine Gesprächspartner für die Tafelarbeit zu begeistern, sie mit dem „Tafelvirus zu infizieren“. Das Einführungsgespräch endet mit einer örtlichen Begehung – „Tafel live“- wir tauchen in die Atmosphäre der Tafel ein, erleben Mitarbeiter direkt bei ihrer konkreten Arbeit. Bei der Tafel arbeiten ca. 300 Mitarbeiter, für die ich zuständig bin. Zu meinen Tätigkeiten gehören auch Verwaltungsarbeiten, wie die Erfassung der persönlichen Daten jedes Mitarbeiters in einer Mitarbeiterdatenbank. Erstellen von Einsatzplänen, Mitarbeiterlisten, Informationsbriefe, führen von Protokollen von Teambesprechungen etc.. Außerdem betreue ich Schüler-Praktikanten und organisiere das Tafelbüro.
Tafelspitz: Das ist ja wirklich ein breites Betätigungsfeld. Wenn Sie erlauben, bleiben wir noch einmal bei den ehrenamtlichen Mitarbeitern. Sie nannten vorher den Begriff „Gruppenleiter/Gruppenleiterin“: Können Sie das noch ein wenig ausführen?
Ulrike Philipp: Im Ladendienst (Sortierdienst /Ausgabe) hat jedes Team eine*n Gruppenleiter*in.
Als Ansprechpartnerin und Koordinatorin bin ich dafür zuständig, auf der Basis der mir vorgelegten Monatspläne der Gruppenleiter Fehlzeiten zu koordinieren, bei auftretenden Schwierigkeiten zwischen Gruppenleiter des Sortierdienstes und der Ausgabe zu vermitteln, neue Gruppenleiter und deren Stellvertreter einzuweisen und als Bindeglied zwischen Tafel-Leitung und Mitarbeitern für die Kommunikation der Informationen zu sorgen.
Tafelspitz: Jetzt haben wir und auch Sie schon mehrfach die beeindruckende Zahl von 300 Ehrenamtlern erwähnt. Wie können wir uns das vorstellen? Eine homogene Gruppe von Rentnerinnen und Rentnern oder stellt sich das anders dar?
Ulrike Philipp: Nein, das ist schon eher eine heterogene Truppe. Unsere ca. 300 Mitarbeiter bilden einen guten Querschnitt durch alle Schichten unserer Gesellschaft, von Schülern, Studenten (25 % aller Mitarbeiter), Berufstätigen, Hausfrauen, Arbeitslosen bis Rentnern, von Nutzern der Tafel bis hin zu Menschen mit Führungspositionen, von Teenagern bis zu Senioren (die Jüngste: 16 Jahre/Älteste: 88 Jahre).
Tafelspitz: Und in welchen unterschiedlichen Tätigkeitsbereichen helfen die Ehrenamtler?
Ulrike Philipp: Das ist ein breit gefächertes Betätigungsfeld. Es fängt an beim Fahrdienst, der ist zuständig für die Abholung von Lebensmitteln bei Lebensmittelgeschäften in Gießen und im Landkreis, die Belieferung privater Haushalte mit Lebensmitteln für Nutzer mit Gesundheitseinschränkungen und die Belieferung der Ausgabestellen Gießen im Landkreis.
Dann kommt der Sortierdienst: angelieferte Lebensmittel (Obst und Gemüse) werden zunächst sortenrein vorsortiert, wobei zur Ausgabe ungeeignete Lebensmittel entsorgt werden. Die gute Ware wird in Kundenkisten gefüllt und für die Ausgabe bereitgestellt. Die angelieferte Kühlware wird in Kühlschränke eingeräumt, Brot und Gebäck werden sichtbar zur Auswahl in Regalen bereitgestellt. Schließlich kommt es zur Ausgabe. Als erstes entrichtet der Nutzer an der Kasse den für ihn festgelegten Betrag. Dann werden die bereitgestellten Lebensmittelkisten mit Obst und Gemüse an die Nutzer ausgegeben. Die Kühlware wird währenddessen schon gepackt und bereitgestellt. Abschließend erhalten sie noch Brot und Gebäck sowie Sonderwaren. Am Nachmittag muss noch nicht sortierte Ware für den nächsten Tag vorbereitet und bereitgestellt werden. Darüber hinaus gibt es das Tafelbüro als Anlaufstelle für Nutzer und Mitarbeiter und den Sonderdienst u.a. für die Entsorgung von Lebensmitteln.
Tafelspitz: Das ist ja wirklich eine große Vielfalt an Tätigkeiten, Aufgaben und Menschen, die das alles ehrenamtlich bewältigen. Sie sind jetzt schon so lange dabei. Gibt es da Erlebnisse, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben sind?
Ulrike Philipp: Ja natürlich, viele schöne Momente und auch manches Lustige ist mir in Erinnerung geblieben. Da war zum Beispiel eine Mitarbeiterin, die in den Sommerferien ihren ca. 10-jährigen Enkel zur Tafel mitgebracht hatte. Sie arbeitete in einem Team des Sortierdienstes, dessen Gruppenleiterin ich war. Ihr Enkel hatte sichtbar Freude an der Arbeit. Während eines gemeinsamen Frühstückes ließ er freudestrahlend folgenden Satz los: „Oma, wenn ich groß bin, dann arbeite ich wie du an der Tafel.“
Oder es erzählte eine Gruppenleiterin, dass ein Mitarbeiter ihres Teams bei der Besprechung seiner nächsten Einsatztermine sagte: „Du kannst mich jetzt schon bis 2030 eintragen“. Und ich freue mich über eine langjährige Mitarbeiterin (bereits 88 Jahre alt), die so viel Spaß bei uns hat, dass sie ankündigt bis zu ihrem 90sten Geburtstag weiter arbeiten zu wollen.
Das alles sind Momente, bei denen ich nicht nur glücklich bin, weil ich mit meiner Tätigkeit bei der Tafel Gutes bewirken kann, sondern wo ich auch merke, wie viel Spaß unsere Ehrenamtler bei ihren so wichtigen Tätigkeiten für die Tafel, für die Menschen, die wir unterstützen, haben. Das alles erfüllt mich mit großer Zufriedenheit.