Gerettet: Aus dem Leben eines Blumenkohls
Tag für Tag rettet die Tafel Gießen Lebensmittel und unterstützt Bedürftige. „Lebensmittel retten“ – ein großer, umfassender Begriff. Was aber bedeutet das im Detail? Wie viele Menschen helfen, welcher Aufwand ist erforderlich, um, sagen wir, einen Blumenkohl statt in der grünen Tonne auf den Tisch von Bedürftigen zu bringen?
Schauen wir uns die Reise eines solchen Blumenkohls doch mal an. Mensch eins im kurzen, schnellen, von ganz vielen Kontakten mit Menschen geprägten Leben des Blumenkohls ist der Bauer. Er pflanzt den Kohl, hegt und pflegt seine Aufzucht, erntet ihn schließlich, verstaut ihn, transportiert die Kisten zur Markthalle, wo Gabelstaplerfahrer, Helfer und Händler den Kohl präsentieren. Von all diesen Zwischenmenschen sieht unser Kohl wenig bis nichts. Aber jeder dieser Menschen will für den Umgang mit dem Blumenkohl entlohnt werden. Auch den Gemüse-Einkäufer z.B. des Rewe-Konzerns (er könnte aber auch von EDEKA, Tegut, Aldi, Lidl kommen) lernt der Kohl aller Wahrscheinlichkeit nach genauso wenig kennen wie die Fahrer der großen Lkws, die ihn vom Großmarkt zum, sagen wir, Rewe-Frische-Logistikzentrum in Rosbach bringen. Auch hier im Taunus steigt der Blumenkohl ohne längeren Aufenthalt nur um. Denn soviel hat er in seinem kurzen Leben schon gelernt: Alle Menschen, mit denen er es zu tun hat, haben es eilig, sich wieder von ihm zu trennen, damit er so weiß, knackig, frisch und fleckenlos wie möglich zum Kunden kommen kann. Also geht täglich eine Fuhre von Rosbach ins Mittelhessische, auch nach Kleinlinden und Heuchelheim zu Constanze Lemp und ihren 95 Mitarbeitern in den dortigen Rewe-Filialen. Zwischen 16 und 17 Uhr fährt der Lkw auf den Rewe-Hof und unser Kohl erreicht in Begleitung von im Winter mehr, im Sommer weniger Artgenossen den nächsten Zwischenstopp seines kurzen, schnellen Lebens, wechselt von der Lkw-Rampe ins Kühlhaus, wird wenig später von einer besonders für den Umgang mit Obst und Gemüse geschulten Mitarbeiterin auf Qualität geprüft und ins Verkaufsregal sortiert. Dort liegt er dann, die komplette Beilage für eine ganze Familie, aufgepeppelt, geerntet, geladen, rumgefahren von bis zu diesem Zeitpunkt schon beinahe einem dutzend Menschen, für – je nach Saison – zwischen einem und drei Euro Verkaufspreis. Einen, maximal zwei Tage später fühlt sich unser Kohl noch toppfit, wundert sich aber, dass die Kundschaft ihn nicht mitnehmen will. Immer wieder kommt nur die Gemüse-Fachmitarbeiterin des Lempschen Rewe-Marktes, inspiziert den Kohl, überprüft ihn auf erste Altersflecken oder langsam welkende grüne Blätter, nimmt ihn schließlich trotz seines noch jugendlichen Alters aus dem Verkaufsregal und legt ihn im Kühlhaus in ein Regal mit dem Schild „Tafel Gießen“.
Szenenwechsel: An jedem Tag in jeder Woche kommen ehrenamtliche Fahrer der Tafel um 9:00 Uhr morgens auf den Hof der Tafel Gießen im Leimenkauter Weg, überprüfen bei „ihrem“ Kühl-Kastenwagen, ob Bremsen, Ölstand, Reifendruck, Tankinhalt in Ordnung sind und machen sich auf den Weg der jeweiligen Tagesstour. Am Montag zum Beispiel geht´s dann zur Bäckerei Volkmann, zu Aldi/Heuchelheim, zur Bäckerei Siebenkorn, zu Lidl, zu Aldi/Großen Linden, zu Tegut/Schlangenzahl, zu EDEKA in der Frankfurter Straße, zu Aldi/Bahnhofstraße und zu den Rewe-Märkten in Großen-Linden, Hüttenberg und nach Kleinlinden zum Markt von Constanze Lemp. So gegen die Mittagszeit lenkt Tafel-Fahrer Karl Heinrich Bilstein mit seinem Copiloten Stefan Dehn den Kühlwagen auf den Hof von Rewe-Lemp. Wenig später sieht sich unser Blumenkohl inspiziert von den beiden ehrenamtlichen Helfern der Tafel, wird einmal mehr verladen, in den dunklen Kühlkasten geräumt und sieht kurze Zeit später erneut das Tageslicht, wenn er gemeinsam mit all den anderen Waren aus den elf (von insgesamt 60) die Tafel unterstützenden Lebensmittelmärkten, die an diesem Montag angefahren wurden, wieder entladen wird. Und es bleibt dabei – das Leben des Blumenkohls ist von Unruhe und Tempo bestimmt. Kaum liegt er mit Artgenossen beim Wareneingang, wird er auch schon wieder von fleißigen Helfern abgeholt und in Nutzerkisten verpackt. Hier trifft der Blumenkohl dann erstmalig auf andere Artgenossen wie eine Tüte Mehl, eine Packung Reis, Nudeln, Joghurt und ähnliche schmackhafte Dinge, die draußen in den Supermärkten niemand kaufen wollte. Wie alles in der Kiste ist unser Kohl immer noch im besten Alter, ist nach wie vor reich an Vitamin C und Mineralstoffen. Doch nun neigt sich sein Leben unweigerlich dem – guten – Ende entgegen. Statt in der Biotonne, weil er nicht mehr ganz so jugendlich frisch wirkt, als dass die zahlende Kundschaft im Supermarkt ihn noch akzeptieren würde, packt ihn ein bedürftiger Mensch in der Ausgabestelle der Tafel Gießen in seine Einkaufstasche. Wenig später liegt er im Kochtopf, wird 20 Minuten lang in Salzwasser gegart und als köstliche Beilage mit Brösel oder einer Mehl-Sauce zu Kartoffeln verspeist. Wieder wurde ein Lebensmittel gerettet und einem Bedürftigen geholfen. (Fotos: Peter Hillgärtner)