Was haben die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Tafel Gießen gemeinsam? – Na? – Richtig! Beide sind seit 15 Jahren, seit 2005, im Amt. Und was unterscheidet beide voneinander? Auch nicht so schwer zu beantworten, oder? Dr. Angela Merkel hört im kommenden Jahr als Regierungschefin auf, zieht sich aus der Politik zurück. Die Tafel Gießen jedoch bleibt bestehen. Sie startet nach einem herausfordernden 15. Jahr gerade wieder durch und wird mit in guter Tradition entwickelten Bahnen und immer neuen Ideen gemäß dem Leitmotiv „Gegen die Armut im Land – für einen Ausgleich von Überfluss und Mangel“ weiter daran arbeiten, sozial Schwache zu unterstützen und Lebensmittel zu retten. Wobei die Herausforderungen wohl zukünftig eher noch anspruchsvoller werden.
Rückblende: Wir schreiben das Jahr 2005. Zum Jahresbeginn tritt das Arbeitslosengeld II (ALG II), bekannter unter dem Namen Hartz IV, in Kraft. Auch in Gießen bedeutet das für viele Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose eine deutliche Verschlechterung ihrer finanziellen Situation. Viele Menschen am unteren Rand der sozialen Pyramide haben immer größere Probleme mit ihren wenigen Euro und Cent in der Geldbörse über den Monat zu kommen. Gleichzeitig gab es damals bereits seit vielen Jahren einen nahezu obszönen Überfluss an Lebensmittelangeboten. Schon im Jahr 1993 hatte das eine Berliner Initiative zum Anlass genommen, zunächst vor allem Obdachlosen zu helfen, indem man Lebensmittel einsammelte, die nach den Gesetzen der Marktlogik „überschüssig“ waren, und diese an bedürftige Menschen weiterzugeben. Dieses Projekt der der Initiativgruppe Berliner Frauen e.V. erwies sich schnell als derart positiv, dass es schnell Nachahmer in ganz Deutschland gab. Zehn Jahre nach der ersten Tafeleröffnung in Berlin saßen dann der Leiter des Diakonischen Werks in Gießen und Kollegin Brinks aus Grünberg zusammen und berieten, ob das nicht auch etwas für den Kreis und die Stadt Gießen wäre.
In der Zeit der Schwangerschaft mit seinem Baby „Tafel Gießen“ merkte Holger Claes, wie er mit seiner Idee häufig offene Türen einrannte. An Menschen und auch Firmen, die helfen wollten, mangelte es von Beginn an nicht. Zur ersten Informationsveranstaltung in den Räumen der Pankratius-Gemeinde kamen 70 Hilfsbereite, die dann auch nahezu komplett zur Geburtsstunde der Gießener Tafel als Teil des Angebotes des Diakonischen Werkes Gießen am Nikolaustag 2005 als Geburtshelfer zur Verfügung standen. Zu den ehrenamtlichen Helfern gesellten sich unterstützende Organisationen wie Soroptimist, Lions Clubs in Gießen, Round Table, Rotary oder Inner Wheel.
Am 6. Dezember 2005 fiel dann im Leimenkauter Weg der Startschuss. Zu Beginn noch ohne Kühlfahrzeug, nur mit einem VW-Bus ausgestattet, sollten an zwei Tagen in der Woche etwa 40 Haushalte mit Lebensmitteln aus dem Überangebot der Supermärkte versorgt werden. Die Nachfrage sprengte allerdings bereits binnen Wochen das Angebot. Schon in der zweiten Woche musste ein dritter Ausgabetag organisiert werden. Nach kurzer Zeit standen 250 Haushalte auf der Bezieher-Liste. Die Ehrenamtlichen, häufig tatkräftige Rentner, hatten alle Hände voll zu tun, Lebensmittel aus den Läden in den Leimenkauter Weg zu schaffen, diese zu sortieren, auszugeben und – wenn nötig – auch bis an die Haustür der Bedürftigen zu bringen.
In den Folgejahren hatten Holger Claes und seine Mitstreiter alle Hände voll zu tun, den wachsenden Erfolg der Tafel Gießen mit der nötigen Infrastruktur zu verstetigen. Schnell erwies sich der zur Verfügung stehende Raum in zwei Holzcontainern als zu klein. Als non-profit-Organisation wurden und werden auch heute noch stets nach Lösungen gesucht, die mit Spenden so kostengünstig wie möglich, Abhilfe schaffen konnten. Zwei gebrauchte Baucontainer erweiterten das Platzangebot – allerdings nur so lange, bis ein Brand im Jahr 2012 nahezu alles in Schutt und Asche legte und die Tafel lahm legte.
Die großartige Hilfsbereitschaft aus allen Bevölkerungsschichten sorgte aber sehr schnell dafür, dass die Tafel Gießen wie Phoenix aus der Asche stieg, neue Räumlichkeiten beziehen konnte und schnell weiter expandierte, so dass die Anzahl der Kunden nach kurzer Zeit sogar auf 2800 bis 3000 Kunden in 800 Haushalten ausgedehnt werden konnte.
Hinzu kamen im Lauf der Zeit Unterstützungen für 14 soziale Einrichtungen wie die Bahnhofsmission, die Wohnungsnotfallhilfe und viele andere. Dass die Tafel trotz aller kleineren und größeren Katastrophen im Verlauf der vergangenen 15 Jahre wie Feuer, Totalschäden an Kühlfahrzeugen oder erzwungenen Schließungen durch ein kleines Virus bis heute eine derartige Erfolgsgeschichte schreiben kann, liegt neben den mittlerweile etwa 300 Helfern und Helferinnen natürlich an den siebzig Lebensmittelgeschäften, die Waren zur Verfügung stellen und natürlich auch an den Sponsoren.
Holger Claes: „Wir bekommen nachhaltig regelmäßig Spenden von Einzelpersonen und Firmen, dazu noch Dauerspender, die uns monatlich oder in regelmäßigen Abständen Gelder zur Verfügung stellen.“ Trotz der großen Spendenbereitschaft sind Soll und Haben auf dem Konto der Tafel Gießen häufig auf Kante genäht. Wenn dann, wie aktuell, die Anschaffung eines neuen Kühlwagens ansteht, hat die seit diesem Jahr für die Koordination zuständige Anna Conrad manch eine unruhige Nacht über den Sorgen um die Beschaffung eines fünfstelligen Betrags für das nötige Fahrzeug. Und die Herausforderungen werden in Zukunft nicht geringer.
Die Bundesbank rechnet im ersten Quartal 2021 mit 6000 Firmen-Pleiten, 35 Prozent mehr gegenüber vor der Zeit vor der Corona-Pandemie. Betreffen wird das vor allem den Dienstleistungsbereich. Leidtragende werden meist Frauen, Geringqualifizierte, Arbeitnehmer ohne Festanstellung. Da könnte sich eine ähnliche Situation wie 2005 anbahnen mit einer noch einmal wachsenden Nachfrage nach dem Angebot der Gießener Tafel.
Diakonie-Leiter Holger Claes plant zwar – wie Bundeskanzlerin Angela Merkel – seinen Rückzug aus dem aktiven Arbeitsleben, aber er wird vorher alles tun, damit „sein Baby“ auch in den nächsten 15 Jahren weiter einer Erfolgsgeschichte bleibt: „Es ist mein Bestreben in der Tafel Gießen, sämtliche Strukturen so durchzugehen, dass wir uns auch zukünftig gut aufgestellt sehen können.